TIANANMEN - 20 Jahre nach dem Massaker

die Opfer erzählen



Adolf Grimme Preis 2010



Produktion: Längengrad Filmproduktion, Thomas Weidenbach
Buch / Regie: Thomas Weidenbach, Ming Shi
Kamera: Michael Kern
Schnitt: Marc Schubert
Ton: Jonas Schmailzl
Musik: Thomas Wolter
Sprecher / Moderation: Philipp Schepmann
Redaktion: Christiane Hinz (WDR), Sabine Rollberg (WDR/ARTE)

Silvia Gutmann (NDR)


Erstausstrahlung: Mittwoch, 3.6.09, 23:00 (ARTE) 4.6.09, 23:30 (ARD)


Sendelänge: 52 Min. / 45Min.

 


Inhalt


Der Platz des Himmlischen Friedens in Peking, der Tiananmen-Platz, ist ein Ort der Hoffnung und der Schande, der Macht und der Ohnmacht. 20 Jahre, nachdem das Militär die studentische Reformbewegung blutig niederschlug, erinnern sich Zeitzeugen. In der Nacht zum 4. Juni 1989 verloren 319 Menschen ihr Leben, wenn man den offiziellen chinesischen Angaben glaubt. Menschenrechtsorganisationen sprechen von rund 3000 Toten. Politische Reformen, Demokratie, Meinungsfreiheit, Gewerkschaften – das waren die Ziele der Demonstranten. Im Mai 1989 protestierten teilweise eine Million Menschen friedlich gegen die chinesische Staatsführung. Die Stimmung wird als warm und freundlich beschrieben. Es sollte einen Dialog mit der Regierung geben – es endete in einer Tragödie, die nie aufgearbeitet wurde. Die Überlebenden sehen die Bilder noch vor sich: Um sie herum starben die Menschen im Kugelhagel oder wurden von Panzern überrollt. Ärzte durften den Platz nicht betreten. „Wir waren wie Unkraut, das man niedermäht!“ erinnert sich einer der damaligen Demonstranten. Mancher, der überlebte, wurde später hingerichtet, konnte aus China fliehen oder wurde nach Jahren im Gefängnis ohne Prozess des Landes verwiesen. Der „Zwischenfall“, wie die Regierung das Blutbad verharmlost, bewegt noch heute viele Menschen, etwa die „Mütter von Tiananmen“, deren Kinder damals ermordet wurden. Aus trauernden wurden kritische Menschen …


Begründung der Jury


Augenzeugen der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989 zu finden, sei nicht allzu schwer gewesen, sagte Shi Ming, einer der beiden Autoren des Films, in einem Interview. Viel schwieriger habe es sich dargestellt, sie zum Sprechen zu bewegen, angesichts der Traumata, die sie damals davon trugen: "Dass sie sich für diesen Film geöffnet haben und detailliert von ihren Erlebnissen erzählen, das erscheint mir immer noch wie ein kleines Wunder." Den meisten Zuschauern dürfte es ähnlich ergehen angesichts der Authentizität, die "Tiananmen" vermittelt.

 

Und noch ein paar mehr dieser kleinen Wunder, die zusammen genommen dann ein ziemlich großes darstellen, vollbringt "Tiananmen". Das zweite ist ebenfalls ein Recherche-Wunder:

Shi Ming und Thomas Weidenbach haben eine geradezu überwältigende Zahl an Originalaufnahmen zusammen getragen, die dem Aufstand wie dessen Gegnern ein Gesicht geben. Man sieht Soldaten lächeln, marschieren, den sturen Blick proben, singen, schießen; man sieht Demonstranten erregte Reden halten, hungern, singen, flüchten, sterben. Man sieht viel Blut, viel Hoffnung, viel Chaos, viel Freude, viel Schrecken, viel Gewalt.

 

Womit man beim dritten kleinen großen Wunder wäre: "Tiananmen" unterscheidet sich nicht nur durch seine Zeitzeugen und seine Dichte an Material sowie deren kluge Komposition vom üblichen Jahrestag-TV-Journalismus, sondern auch durch den angesichts des Themas erstaunlich unaufgeregten Off-Text und den dezenten Einsatz von Musik. Auf den Gesichtern der Zeitzeugen ruht die Kamera stets aufmerksam, die Schnitte zu den Originalaufnahmen sind mit sehr viel Bedacht gesetzt: Die Wirklichkeit ist eben Nerven aufreibend genug, deshalb muss man ihr tatsächlich keine Suspense-Ästhetik überstülpen.

 

Doch Shi und Weidenbach belassen es nicht bei der differenzierten Darstellung der Vorgeschichte des Massakers, der Chronologie der Eskalation, die auch heute noch viele Rätsel birgt. Sondern zeigen auch die Folgen des Juni 1989 anhand ihrer Protagonisten auf – um klar zu machen, dass diese Ereignisse längst nicht zu den Akten gelegt werden können. Zhang Jian zum Beispiel weist auf den wirtschaftlichen Erfolg Chinas hin, dessen Vorbedingung das Massaker am Tiananmen-Platz darstelle: "Widerstand zu leisten, das wagt heute niemand mehr." Han Dongfang wiederum, der von den Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz als chinesischer Lech Walesa gefeiert wurde und fast zwei Jahre im Gefängnis verbrachte, lebt heute in der "Sonderverwaltungzone" Hongkong – und "würde alles dafür geben, nach China zurück kehren zu dürfen". So klar, wie man oft meint, liegen die Dinge selten – das zeigt "Tiananmen" auf so informative wie eindrucksvolle Weise.


(Quelle:  www.grimme-institut.de)